West- und Mitteleuropa - Wirtschaft und Verkehr

Europa - West- und Mitteleuropa - Wirtschaft und Verkehr
978-3-14-100870-8 | Seite 136 | Abb. 1| Maßstab 1 : 6000000

Überblick

Im Standortgefüge der Industrien und Dienstleistungen in Mittel- und Westeuropa lassen sich vier kennzeichnende Merkmale erkennen:

• ein Zentrum-Peripherie-Gefälle,

• eine Hauptachse, die mit Unterbrechungen von Mittelengland über London, die Beneluxstaaten, den Niederrhein, das Ruhrgebiet, den Rhein-Main- und den Rhein-Neckar-Raum bis in die Region Basel/Zürich verläuft (in der Wirtschaftsgeographie als "Blaue Banane" bekannt),

• einige großstädtische Agglomerationsräume (zum Beispiel London, Paris, Hamburg, München),

• einige Ballungsgebiete mit traditionell starker Industrie- und/oder Dienstleistungsorientierung wie Halle-Leipzig oder Oberschlesien.

Diese Standorte zeichnen sich durch eine diversifizierte Wirtschaftsstruktur und eine enge Vernetzung von Unternehmen aus Industrie- und Dienstleistungssektor aus.

Wirtschaftssektoren und Branchen

Wie sich die Wirtschaftsstruktur in den letzten Jahrzehnten verändert hat, ist zum Beispiel an den Produktions- und Beschäftigungsdaten der einzelnen Wirtschaftssektoren abzulesen. Der Anteil der Erwerbstätigen im sekundären Sektor und dessen Beitrag zur Wirtschaftsleistung haben sich durch sektoralen Strukturwandel (Tertiärisierung), Rationalisierung und Standortverlagerungen deutlich reduziert. Typischerweise hat die Industrie in West- und Mittel-europa heute Anteile zwischen 15 und 30 Prozent an den Beschäftigten bzw. der Wirtschaftsleistung (BIP). Dies gilt auch für die ostmitteleuropäischen Staaten, wo die Zahl der Industriebeschäftigten seit Beginn des politisch-ökonomischen Transformationsprozesses zum Teil erheblich geschrumpft ist, aber die Anteile der Industrie noch etwas über denen in Westeuropa liegen (> 30 %). Parallel dazu ist der Anteil der Beschäftigten im tertiären Sektor und dessen Beitrag zur Wirtschaftsleistung in allen Ländern gestiegen. Typische Werte liegen heute zwischen 70 und 80 Prozent, nur in Ostmitteleuropa sind sie noch etwas geringer.

Die Wertschöpfungs-, Umsatz- und Beschäftigtenanteile verschieben sich auch innerhalb der einzelnen Branchen der Industrie. Zwei Modelle bieten hier geeignete Erklärungsansätze:

• Das Modell des Produktlebenszyklus sagt aus, dass jedes Industrieprodukt einen in Phasen gegliederten Zyklus von der Produktidee bis zum Ausscheiden aus dem Markt durchläuft (Entwicklung und Einführung, Wachstum, Reife, Schrumpfung). Jeder dieser Phasen lassen sich typische Standortmuster zuordnen.

• Die Theorie der langen Wellen stellt Beziehungen zwischen Basis-innovationen, ihrer Ausbreitung und der langfristigen Konjunkturentwicklung her. Dabei werden fünf Zyklen beschrieben. Deren wichtigste Branchen sind:

1. Montan- und Textilindustrie,

2. Maschinenbau und Eisenbahnwesen,

3. die Elektroindustrie, chemische Industrie und der Maschinenbau,

4. Elektronik-, Kunststoff- und Konsumgüterindustrie und

5. Computer- und Informationstechnologie.

Agrarwirtschaftliche Differenzierung

Noch immer gilt, dass gute Böden, ein optimales Klima und andere naturräumliche Faktoren günstige Voraussetzungen für die Landwirtschaft bieten. Dies wird deutlich, wenn man die räumliche Übereinstimmung von Regionen mit guter Bodenqualität mit den Anbauregionen von Weizen oder Zuckerrüben betrachtet (Nordfrankreich, Bördelandschaften). Der Anbau von Wein, Obst und Gemüse beruht vielerorts vor allem auf einer klimatisch günstigen Naturraumausstattung.

Daneben haben aber auch andere Strukturmerkmale - etwa optimale Betriebsgröße, Spezialisierung, Mechanisierungsgrad, Marktnähe - und der EU-Agrarmarkt großen Einfluss erlangt. In Belgien und den Niederlanden bietet der Gemüseanbau, in Deutschland und Dänemark die Schweinezucht anschauliche Beispiele für den Bedeutungsverlust naturräumlicher Faktoren und den wachsenden Stellenwert von kapitalstarken, agrarindustriellen Betrieben, die weitgehend unabhängig von den naturräumlichen Bedingungen wirtschaften.

An die Landwirtschaft knüpft eine bedeutende verarbeitende Lebensmittelindustrie an. Trotz des relativ geringen Beitrags des primären Sektors zur gesamten Wirtschaftsleistung zählen Länder wie Frankreich, die Niederlande, Belgien, Deutschland und Dänemark zu den größten Agrarexporteuren weltweit. Sie haben bei vielen Produkten eine marktbeherrschende Stellung inne.

Rohstoffe und Bergbau

Die wichtigsten Rohstoffe in West- und Mitteleuropa sind Erdöl und Erdgas aus der Nordsee (vgl. Karte 124.1). Sie dienen als Energieträger und als wichtiger Rohstoff für die chemische Industrie. Ein Pipelinenetz verbindet die Fördergebiete mit den Standorten der Raffinerien und der chemischen Industrie, die bevorzugt an Küstenstandorten bzw. verkehrsgünstig im Binnenland liegen.

Von den in der Karte verzeichneten Standorten des Steinkohlenbergbaus sind nur noch wenige im internationalen Vergleich konkurrenzfähig, auch wenn sie ehemals die Grundlage für die Entstehung ganzer Industriereviere bildeten und zum Teil heute noch Kohle gefördert wird. Vielerorts stehen diese Standorte für ein Rückzugsstadium, Steinkohle als Exportgut spielt nur noch für Polen eine gewisse Rolle. Die Braunkohleförderung in Deutschland, Polen und Tschechien dient überwiegend der Verstromung vor Ort (Standorte von Wärmekraftwerken).

Altindustrieräume

Ausgangspunkt und Grundlage der Industrialisierung in West- und Mitteleuropa war die Montanindustrie (Steinkohlen- und Erzbergbau, Eisen- und Stahlerzeugung). Ihre ökonomische und regionalpolitische Bedeutung hat in den meisten Altindustrieräumen gravierend abgenommen. Der Strukturwandel vollzog sich teils mit harten Einschnitten (zum Beispiel Großbritannien), teils abgemildert durch Subventionen und Regionalförderung (zum Beispiel Deutschland).

Die Eisen- und Stahlindustrie zeigt heute zwei räumliche Schwerpunkte. Im Binnenland sind es Standorte der alten Reviere, die durch Rationalisierung, Prozess- und Produktinnovationen sowie internationale Vernetzung erfolgreich eine Neuausrichtung bewältigt haben (zum Beispiel im Ruhrgebiet, Wales, Salzgitter, Lothringen). Die jüngeren Standorte liegen an den Küsten. Sie profitieren dort von der Verkehrsgunst, denn importierte Rohstoffe können direkt auf dem Seeweg bezogen werden. Die wachsende Nachfrage nach Stahl auf dem Weltmarkt. Sie hat sich seit 1990 mehr als verdoppelt und trug zur stabilen Entwicklung der Standorte dieser Branche wesentlich bei. Der Anteil Europas an der Stahlerzeugung weltweit liegt heute bei zehn Prozent, allerdings ist bei Stahl eine hohe Abhängigkeit der Nachfrage von konjunkturellen Schwankungen zu beobachten.

Zu den Pionierindustrien der Altindustrieräume zählt auch die Textil- und Bekleidungsindustrie. Sie führte zur Entstehung spezifischer Textilregionen (zum Beispiel in Mittelengland). Die Textil-industrie ist dort heute meist ganz verschwunden. Lediglich in einzelnen Großstädten und Regionen (zum Beispiel Paris, Norditalien) kann sie in Kleinbetrieben durch die Ausnutzung von Marktnischen, Produktinnovationen und hochwertige Kreationen bis heute eine erfolgreiche Marktposition behaupten.

Wachstumsindustrien

Forschungs- und entwicklungsintensive Wachstumsindustrien bevorzugen in der Regel zentral gelegenen Regionen mit Agglomerationsvorteilen (zum Beispiel Bildungs- und Forschungslandschaft, Innovationspotenzial, breit gefächertes Dienstleistungsangebot, qualifizierte Arbeitskräfte, optimale Verkehrsanbindung). Cluster aus miteinander verflochtenen, hochspezialisierten Teilbranchen sind zu einem verbreiteten Organisationsmodell geworden, das auch in der Wirtschaftsförderung eine Rolle spielt. Im Zuge der globalen Orientierung der meisten Großunternehmen werden die Aufgaben zwischen den einzelnen Standorten aufgeteilt (zum Beispiel Verwaltung, Forschung, Entwicklung und Marketing einerseits, Produktion - oft außerhalb des Landes oder der EU - andererseits).

Typische "Hightech"-Branchen wie Luft- und Raumfahrttechnik, Elektronik, Photonik und Biotechnologie haben ihre wichtigsten Standorte in Verdichtungsräumen wie München und in diversifizierten Industriegebieten mit hochqualifizierter Unternehmer- und Facharbeiterschaft und langer Tradition (zum Beispiel Baden-Württemberg). Standorte multinationaler Konzerne prägen mitunter ganze Regionen (zum Beispiel Eindhoven, Wolfsburg).

Ein Sonderfall ist der Flugzeugbau. Die Standorte des Airbuskonzerns wurden - entsprechend dem Charakter als europäischem Kooperationsprojekt - auf die teilnehmenden Staaten verteilt. Standorte wie St-Nazaire oder Bantes in Frankreich zeigen, dass bei der Standortwahl auch raumordnerische Überlegungen eine Rolle spielten.

Trotz hocheffizienter Fertigungstechnologien besitzt der Kraftfahrzeugbau eine beachtliche direkte und eine noch weit bedeutendere indirekte Beschäftigungswirkung für manche Staaten. Während Deutschland und Frankreich ihre Produktion steigern konnten bzw. Tschechien, Polen, Ungarn und die Slowakei wichtige Montagestandorte ausländischer Konzerne wurden, nahm die Bedeutung der britischen und auch der italienischen Autoindustrie ab.

Dienstleistungen

Innerhalb Europas hat sich ein differenziertes Netz spezialisierter Dienstleistungsstandorte herausgebildet. Dabei zeigen sich Unterschiede in der Branchenstruktur zwischen den großen Agglomerationen einerseits und den peripheren Räumen andererseits. London, Frankfurt/Main, Brüssel und Rotterdam sind Beispiele für bedeutende Dienstleistungsstandorte in den Agglomerationen. Während in Brüssel Medien und Verwaltung dominieren, sind Frankfurt/Main und London Verkehrs- und Finanzstandorte, der Hafenstandort Rotterdam ist auf Logistik spezialisiert.

In einigen peripheren Regionen dominiert der Tourismus als Leitbranche, zum Beispiel an der französischen Atlantikküste, an der Nordseeküste und in den Alpen.

Verkehr

Ein Kernthema der EU-Verkehrspolitik ist seit Jahren die Verbesserung der grenzüberschreitenden Mobilität von Personen und Gütern durch den Ausbau Transeuropäischer Netze (TEN). Die Planungen betreffen Straßen-, Schienen- und Wasserwege, den kombinierten Verkehr (Verbindung verschiedener Verkehrsträger), aber auch Flughäfen und Häfen. Im Sinne der Nachhaltigkeit hat die Förderung des Schienenverkehrs Priorität, vor allem durch den Ausbau eines Hochgeschwindigkeitsnetzes zwischen Zentren wie London, Paris, Brüssel, Amsterdam oder Köln.

Die wichtigsten Passagierflughäfen des Kontinents liegen alle in West- und Mitteleuropa, der bedeutendste ist London Heathrow Airport, gefolgt von Aéroport Paris-Charles de Gaulle und den Flughäfen Frankfurt/Main und Amsterdam Schiphol. Die vier größten Häfen Europas finden sich an der Nordsee. Auf Rotterdam, der mit großem Abstand wichtigsten europäischen Seehafen, folgen Antwerpen, Hamburg und Bremen/Bremerhaven. Bedeutendster Binnenhafen ist Duisburg.

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