Rio de Janeiro - Segregation

Amerika - Brasilien - Entwicklung und Nachhaltigkeit
978-3-14-100803-6 | Seite 236 | Abb. 3| Maßstab 1 : 250000

Überblick

Mit 11,8 Mio. Einwohnern ist die Agglomeration Rio de Janeiro nach São Paulo (19,7 Mio.) – aber deutlich vor Belo Horizonte, Recife und Porto Alegre mit jeweils zwischen 5,4 Mio. und 3,7 Mio. Einwohnern – die nach der Bevölkerung zweitgrößte der neun Großstadtregionen Brasiliens. Die Probleme all dieser Ballungsgebiete sind ähnlich und betreffen vor allem die Bereiche Wohnen, Versorgung und Entsorgung, Verkehr und Umwelt. Eine zusätzliche Herausforderung für Rio de Janeiro sind internationale Großereignisse (wie die Fußballweltmeisterschaft 2014 oder die Olympischen Sommerspiele 2016).

Stadt der Gegensätze

Im Grundriss entspricht Rio de Janeiro nur in einigen Vierteln einer typisch südamerikanischen Stadt: Lediglich das Geschäftszentrum, die Küstenwohnviertel Copacabana, Ipanema und Leblon und einige andere Stadtteile lassen Anklänge an das kolonialzeitliche Schachbrettmuster erkennen. Die erste portugiesische Niederlassung entstand 1565 auf der Halbinselzunge vor dem Zuckerhut. Ihre isolierte Lage war zwar strategisch günstig, verhinderte aber eine städtische Entwicklung. Bereits zwei Jahre später wurde deshalb im Bereich des heutigen Geschäftszentrums ein zweiter Siedlungskern gegründet, der später mit dem ersten verbunden wurde.

Für die Entwicklung der Stadt entscheidend war die Erhebung zur Landeshauptstadt 1763, nicht zuletzt, weil sich dadurch die europäische Einwanderung nach Brasilien auf Rio de Janeiro konzentrierte. Hinzu kam im 20. Jahrhundert die brasilianische Binnenwanderung, wobei Rio als Hauptstadt eine besondere Magnetwirkung hatte. Auch nach der Verlagerung der politischen Steuerungsfunktionen nach Brasília 1960 ist Rio de Janeiro Weltstadt geblieben. Die Karte belegt ihren Rang als Handels-, Verkehrs- und Bevölkerungszentrum.

Sozialräumliche Gliederung

Gleichzeitig offenbart die Karte aber auch die für Agglomerationen in Schwellenländern typischen sozialräumlichen Gegensätze. So gibt es in der Stadt über 100 Marginalviertel, die Favelas; knapp ein Drittel von ihnen wurden inzwischen durch Sicherheitskräfte „befriedet“. Um der vielfältigen Probleme innerhalb der Marginalviertel Herr zu werden, hat die Stadtplanung Anfang der 1990er-Jahre damit begonnen, irreguläre Siedlungen nicht mehr abzureißen, wie lange Zeit üblich, sondern durch nachholende Urbanisierung in die formelle Stadt zu integrieren. Dadurch hat sich die Lebenssituation in den Favelas – trotz vieler Mängel und Schwierigkeiten – deutlich verbessert. Fast alle Marginalviertel verfügen inzwischen über eine Basis-Infrastruktur aus Wasserversorgung, Abwasserleitungen, Müllabfuhr, Stromversorgung und Schulen, die Kriminalitätsrate ist deutlich zurückgegangen – allerdings von einem extrem hohen Niveau –, es gibt sogar mancherorts erste organisierte Führungen für Touristen und Hotels. Ein ungelöstes Problem ist bis heute, dass die kriminellen Banden in einigen Favelas soziale Funktionen übernehmen und sich dadurch Rückhalt in der benachteiligten Bevölkerung verschaffen.

Die Wohnquartiere der Privilegierten befinden sich, wie nicht anders zu erwarten, in den schönsten, von gefährlichen Hangrutschungen nicht bedrohten Lagen entlang der Küste, insbesondere in der „Zona sul“ mit den Wohnvierteln Copacabana, Ipanema, Leblon und Barra da Tijuca. Dabei lässt sich eine deutliche sozialräumliche Verlagerung erkennen. War in den 1950er-Jahren Copacabana das teuerste Wohnviertel, so galt dies in den 1960er-Jahren für Ipanema und Leblon, während sich an den 1970er-Jahren Barra de Tijuca zu einem Viertel der Reichen entwickelte. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Oberschicht verstärkt in bewachte Wohnkomplexe, sogenannte Condominios, zurückgezogen, in denen sich die Bewohner durch Absperrungen, privates Sicherheitspersonal und Kameraüberwachung von der übrigen Gesellschaft separieren. Diese „Gated Communities“, von denen es in Rio knapp 20 gibt, haben sich in den letzten Jahrzehnten zu einem typischen Merkmal von Großstädten in Schwellenländern mit ausgeprägten sozialen Disparitäten entwickelt (vgl. 152.3).

Um Wohnviertel zu sichern, wurden am Stadtrand einige Naturparks geschaffen. Seit die städtische Bebauung immer höher an den Bergflanken hinaufwuchs und dadurch die schützende Walddecke zerstörte, änderten sich der Wasserhaushalt und die Abflussverhältnisse. Die Folgen waren Hangrutschungen, die zur Zerstörung ganzer Stadtviertel führten. Zumeist waren von diesen Katastrophen die Marginalviertel betroffen. Im Zentrum des Stadtgebiets wurde 1961 der Tijuca-Nationalpark ausgewiesen.

Umweltrisiken und Verkehr

Ein großes Umweltproblem in Rio de Janeiro ist das Abwasser. Jahrzehntelang wurden alle Abwässer, selbst die aus dem öffentlichen Abwassersystem, ungeklärt in die Bucht von Guanabara oder den Atlantik geleitet. Die Bucht, die kaum über nennenswerte Zuflüsse verfügt, hat sich dadurch im Laufe der Zeit zu einem Sammelbecken für Unmengen von Haushalts- und Industrieabwässern entwickelt. Nach dem UN-Umweltgipfel in Rio de Janeiro 1992 wurde zwar mit dem Bau von sieben neuen Kläranlagen begonnen, aber aufgrund diverser Planungsfehler und Baupannen haben bis heute erst drei von ihnen ihren regulären Betrieb aufgenommen, weshalb noch immer ein Großteil der Abwässer ungeklärt ins Meer gelangt.

Hinzu kommt das Thema Luftverschmutzung. Die nicht unerheblichen Emissionen stammen aus der Müllverbrennung, dem Verkehr und von Industrieunternehmen. Ein wenig besser steht es um den Schutz der Wälder im Stadtbereich. Seit das Tijuca- und das Corcovado-Massiv unter Naturschutz stehen, können sie als grüne Lunge wirken, auch die Gefahr weiterer Hangrutschungen wurde dadurch verringert.

Wie alle großen Agglomerationen hat auch Rio mit erheblichen Verkehrsproblemen zu kämpfen, die sich aus den Pendlerbewegungen von mehreren Millionen Einwohnern ergeben. Aufgrund der Stadttopographie ergibt sich dabei eine Bündelung auf wenige strahlenförmig aus der Innenstadt herausführende Straßen und Schienenverbindungen. Eine Entlastung brachte 1979 die Eröffnung der U-Bahn, die allerdings nur zwei Linien mit gut 30 Stationen umfasst; weitere Linien sind lediglich in der Planung. Die oft überfüllten Stadtbusse werden täglich von rund 4 Mio. Fahrgästen genutzt. Das Problem der Anbindung der östlich der Bucht von Guanabara gelegenen Vorstadt Niterói wurde 1974 mit der Einweihung der Rio-Niterói-Brücke gelöst. Trotzdem gehören Staus in Rio de Janeiro zum Alltag.

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