Raab (Ungarn) - Handel und Gewerbe - 2015

Europa - Mitteleuropa - Transformation und EU-Integration
978-3-14-100800-5 | Seite 113 | Abb. 4| Maßstab 1 : 75000

Überblick

Mit dem Übergang zur Marktwirtschaft vollzog sich in allen Staaten Osteuropas ein tiefgreifender Strukturwandel in der Wirtschaft, der sich im Spannungsfeld zwischen interner Restrukturierung und Globalisierung bewegte. Dies gilt auch für Raab (Györ), eine ungarische Stadt mit heute rund 130 000 Einwohnern, nur anderthalb Autostunden von Wien und eine Autostunde von Bratislava entfernt im Nordwesten Ungarns gelegen.

Gründungsboom und Internationalisierung des Einzelhandels

Auf der Angebotsseite gab es im Einzelhandel zwei parallele Entwicklungen, die die Standortstruktur auf unterschiedliche Weise prägten. Zum einen kam es zu einem Gründungsboom, der im Wesentlichen durch lokale Händler getragen wurde, die zum Teil nur über geringe Erfahrungen mit marktwirtschaftlichen Wettbewerbsbedingungen verfügten. Da es diesen Jungunternehmern häufig an Kapital mangelte und Ladenlokale überdies nur in unzureichendem Maße verfügbar waren, kam es mehrheitlich zur Gründung kleinflächiger Betriebe in zentralen Lagen oder integrierten Streulagen in Wohngebieten.

Ein zweiter wichtiger Faktor war die Internationalisierung des westeuropäischen Einzelhandels durch die Öffnung der osteuropäischen Märkte. Aufgrund der international orientierten Marktstrategien westeuropäischer Einzelhandelsunternehmen rückte Osteuropa in das Blickfeld, was zu einer Überlagerung der Standortstruktur des dortigen Einzelhandels führte. Die international agierenden Einzelhandelskonzerne konzentrierten ihre Aktivitäten zunächst vornehmlich auf innenstadtnahe Standorte, wo sie maßgeblich zur „nachholenden Citybildung“ beitrugen. Ab der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre expandierte der großflächige Einzelhandel, was zu einer verstärkten, aber nicht ausschließlichen Inanspruchnahme von Standorten an der Peripherie oder im Umland der osteuropäischen Städte führte.

Die Karte zeigt diesen Aspekt der Standortwahl am Beispiel der ungarischen Stadt Raab. Die Standortpolitik der internationalen Unternehmen folgte einem recht einheitlichen Muster. Zahlreiche SB-Warenhäuser und Verbrauchermärkte wurden in der Nähe der Großwohnsiedlungen errichtet. Wichtige Standortvorteile waren dort die großen Freiflächenpotenziale, eine hohe Nachfrage infolge der großen Bevölkerungsdichte und ein bis dahin unterausgestattetes Einzelhandelsangebot. Daneben hatten, wie die Karte erkennen lässt, nichtintegrierte Lagen „auf der grünen Wiese“ oder an ehemaligen Industriestandorten eine hohe Bedeutung.

Neue Strukturen im Einzelhandel

Mit der noch immer anhaltenden Internationalisierung verbreiteten sich in Osteuropa Betriebsformen, die im einheimischen Einzelhandel bis 1990 unbekannt waren, darunter insbesondere Discounter, Verbrauchermärkte und SB-Warenhäuser. Der Wettbewerbsdruck auf den kleinflächigen einheimischen Handel stieg dadurch erheblich. Denn aufgrund der immer noch vergleichsweise niedrigen Realeinkommen ist der Preis das entscheidende Wettbewerbsmerkmal im Lebensmitteleinzelhandel, einheimische Händler sind da kaum konkurrenzfähig. Zwar führte dies noch nicht zu einem signifikanten Ladensterben, wie es die alte Bundesrepublik in den 1960er-Jahren erlebte, aber vor allem deshalb, weil den einheimischen Ladenbesitzern eine Einkommensalternative fehlt. Die Leerstandsraten steigen allerdings; sie haben erhebliche kleinräumige Effekte, vor allem im Umfeld neuer großflächiger Handelsstandorte.

Die jüngste der Betriebsformen, die sich international bereits durchgesetzt haben und nun auch nach Osteuropa gelangen, sind Shopping-Center. Diese Center stehen für eine Internationalisierungsphase, die nicht nur von international tätigen Entwicklern oder Betreibern wie ECE (Deutschland), ING (Niederlande) oder Cefic (Frankreich) vorangetrieben wird, sondern ebenso durch ein wachsendes Engagement institutioneller Investoren wie etwa Banken, Versicherungen und Immobilienfonds, die mit international gestreuten Kapitalanlagen ihr Anlageportfolio diversifizieren.

Industrie und Gewerbe

Eine wesentliche Rolle für die wirtschaftliche Entwicklung von Raab und die wachsende Kaufkraft der Bevölkerung spielte die Ansiedlung des Audi-Motorenwerks im Jahr 1993. Sie knüpfte an einen traditionellen ungarischen Fahrzeugbaustandort an. Heute werden in Raab Motoren für die gesamte Pkw-Palette des Volkswagenkonzerns gebaut und per Bahn an die anderen Standorte geliefert. Darüber hinaus finden vor Ort Entwicklungsaktivitäten statt. Im Jahr 2006 lief die Endmontage von Autos in einem neuen Werk an. Am Standort Raab beschäftigt Audi heute rund 10 000 Mitarbeiter (2013).

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