Polen - Oberschlesisches Industriegebiet

Europa - Mitteleuropa - Transformation und EU-Integration
978-3-14-100800-5 | Seite 112 | Abb. 2| Maßstab 1 : 500000

Überblick

Die Karte zeigt das älteste und im frühen 19. Jahrhundert auch bedeutendste kontinentaleuropäische Montanrevier, bis heute das Industriezentrum Polens. Es ist gut durch die gehäuften Signaturen von aktiven bzw. stillgelegten Steinkohlebergwerken erkennbar. Bis 1918/21 gehörten die nordwestlichen Teile zum Deutschen Reich, die östlichen zum Russischen Reich, die südlichen zur Habsburger Donaumonarchie. Aus dieser Zeit stammen noch die deutschen Ortsnamen.

Das oberschlesische Industriegebiet (polnische Abkürzung: GOP) hat heute etwa 2,7 Mio. Einwohner. Die wichtigsten Zentren sind Katowice mit 310 000 Einwohnern (1988: 370 000) sowie Sosnowiec und Gliwice mit je 200 000 Einwohnern. Das Industriegebiet im engeren Sinne erstreckt sich über rund 50 Kilometer Länge von Gliwice im Westen bis Dombrowa im Osten und über rund 40 Kilometer von Bytom im Norden bis Tichy im Süden. Es umfasst im weiteren Sinne auch die Chemiestandorte der Region, das Rybniker Steinkohlenrevier im Süden und das geologisch wie historisch verwandte Nordmährische Industriegebiet um Ostrau in Tschechien (s. 118/119).

Zur Entwicklung der Montanindustrie

Das Oberschlesische Industriegebiet beruht auf dem Reichtum an Bodenschätzen (Steinkohle; heute erschöpfte Eisen-, Blei- und Zinkerzlagerstätten), darauf entstand ein Montanrevier. Es ist damit dem Ruhrgebiet vergleichbar (s. 40.1–2).

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde das Revier nach politischen Überlegungen aufgeteilt und dadurch als Wirtschaftsraum beeinträchtigt. Polen erhielt den weitaus größten Anteil an der Steinkohle-, Eisen- und Zinkförderung.

Unter nationalsozialistischer Herrschaft wurde die Wirtschaft auf die kriegswichtige Produktion ausgerichtet. Der Wasserweg von Gleiwitz zur Oder (Gleiwitzer Kanal) und damit zu den Absatzgebieten in Mitteleuropa wurde ausgebaut, in diese Zeit fällt auch die Errichtung großer Kohlechemiewerke im Revier.

Die Förderung der Schwerindustrie durch Polen nach 1945 konzentrierte sich zunächst auf die Neue Hütte (Nowa Huta) und auf die nördlich des GOP-Reviers gelegene Hütte Czestochowa. Ab den 1950er-Jahren kam es zu einer Südwanderung des Kohlebergbaus (s. Karte), ab 1972 zur Modernisierung der Schwerindustrie im GOP-Revier (u. a. Neubau von Huta Katowice bei Dombrowa).

Um 1990 setzte im Zuge der Transformation ein Strukturwandel im Kohle- und Stahlrevier ein. In der Folge mussten in der Region zahlreiche Kohlegruben, Hochöfen und Stahlwerke schließen. Andere Standorte schafften den Übergang in die Marktwirtschaft, wurden modernisiert und erzeugen heute eine breite Palette an Stahlprodukten.

Die Entwicklung der Automobilindustrie in der Region

In Tichy wurde ab 1972 ein Pkw-Werk zur Lizenzproduktion von Fahrzeugen des italienischen Unternehmens Fiat errichtet (s. Grafik im Atlas). Fast gleichzeitig erhielt die Region auch mehrspurige Schnellstraßen und Katowice ein nach damaligen Vorstellungen modernes, weitläufiges Stadtzentrum. Die relativ diversifizierte Wirtschaftsstruktur der Region ermöglichte den Aufbau von Produktionsverflechtungen, so wurde die Autoindustrie zum Beispiel Abnehmer der Stahlindustrie vor Ort.

1992 kaufte Fiat das Werk in Tichy. Dies war der Startschuss für eine dynamische Entwicklung der Autobranche in der Region unter marktwirtschaftlichen Bedingungen. Zu den bedeutenden neuen Industrieanlagen zählen das 1998 errichtete Opelwerk in Gleiwitz und das Isuzu-Motorenwerk in Tichy. Sie zogen Ansiedlungen von Zulieferbetrieben nach sich. Im Fiatwerk arbeiteten Anfang 2013 rund 5000 Beschäftigte. Achtmal so viele Beschäftigte, also rund 40 000, arbeiteten indirekt für das Fiatwerk.

Polen förderte diese Entwicklung durch die Ausweisung von Sonderwirtschaftszonen. Dort kommen Investoren in den Genuss steuerlicher Vorteile (Nachlässe bis zu 70 Prozent, zunächst garantiert bis 2020, aktuell verlängert bis 2026). Schätzungen besagen, dass im ganzen Land zwischen 1995 und 2013 rund 20 Mrd. US-$ an ausländischen Investitionen angelockt wurden und 250 000 Arbeitsplätze in den Zonen selbst entstanden sind; hinzu kommt eine Million Arbeitsplätze außerhalb der Sonderwirtschaftszonen, die durch die Nachfrage der neu angesiedelten Unternehmen entstanden sind, zum Beispiel im Dienstleistungssektor.

In der Region wurde zudem in die Infrastruktur investiert (Autobahnnetz mit Anschluss nach Deutschland und Tschechien) und die Erschließung neuer Industrieflächen vorangetrieben. Als Standortfaktoren wirken sich nicht zuletzt die relativ zentrale Lage in Europa, die gut ausgebildeten Arbeitskräfte, der wachsende Binnenmarkt und die im EU-Vergleich relativ günstigen Lohnkosten aus.

Obgleich sich in der Branche auch Absatz- und Unternehmenskrisen bemerkbar machen, ergibt sich eine positive Perspektive, sodass sich in den nächsten Jahren in der Region ein Automobilcluster entwickeln kann.

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