Osteuropa - Konflikt (2014)

Erde - Erde - Geopolitik
978-3-14-100800-5 | Seite 281 | Abb. 4| Maßstab 1 : 24000000

Der Zerfall der Sowjetunion als Hintergrund

Den Hintergrund der Konflikte in Osteuropa bilden der Zusammenbruch des Ostblocks und der Zerfall der Sowjetunion. Bis in die späten 1980er-Jahre war Europa durch den Ost-West-Konflikt in zwei verfeindete Blöcke geteilt. Auf der einen Seite gab es die mit der Sowjetunion verbündeten Ostblockstaaten, auf der anderen die mit den Vereinigten Staaten von Amerika sympathisierenden Länder des Westens. 1985 beginnend, vor allem aber 1989 und 1990 erfasste ein rascher Demokratisierungsprozess die Staaten des Ostblocks, in denen sich die alten Machthaber dem Druck der Bevölkerung beugen und demokratisch gewählten Regierungen weichen mussten.

Auch in der Sowjetunion machten sich bald nach dem politischen Kurswechsel zentrifugale Tendenzen bemerkbar. Insbesondere die islamischen Volksgruppen in Zentralasien, die Kaukasusvölker und die Nationen an der Westgrenze opponierten gegen die lange Jahre propagierte Idee eines einheitlichen „Sowjetvolkes“. Im Frühjahr 1990 entschieden sich die Parlamente der drei baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen für die Unabhängigkeit. Die Sowjetunion antwortete im April mit einer Wirtschaftsblockade gegen Litauen, die im Sommer, nach dem befristeten Außerkraftsetzen der Unabhängigkeit, wieder aufgehoben wurde. Anfang 1991 ging die Sowjetmacht mit militärischen Mitteln gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen vor, doch sowohl der Putschversuch in Litauen wie auch der Angriff auf das Innenministerium in Riga blieben ohne Erfolg. Volksabstimmungen im Februar und März 1991 bestätigten die Entscheidungen der Parlamente. Noch im selben Jahr erfolgten ihre internationale Anerkennung und die Aufnahme in die UNO. Die baltischen Staaten waren damit die ersten, die sich aus dem sowjetischen Staatswesen lösten und damit zugleich eine Lawine ins Rollen brachten.

Der Abspaltungsprozess führte zum völligen Zusammenbruch der Sowjetunion, die im Dezember 1991, nach dem Rücktritt von Michail Gorbatschow, formell aufgelöst wurde. Auf ihrem einstigen Territorium konstituierten sich außer den Staaten Estland, Lettland und Litauen die selbstständigen Republiken Russland, Weißrussland, Ukraine, Moldawien, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan, Kirgisistan und Kasachstan.

Die neuen Regierungen der ehemaligen Ostblockstaaten öffneten ihr Land rasch der Marktwirtschaft und strebten nach Integration in NATO und EU. 1991 wurde der Warschauer Pakt formell aufgelöst.

Polen, die Tschechische Republik und Ungarn traten 1999 der NATO bei, 2004 folgten Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien ihrem Beispiel. Im Zuge der sogenannten Osterweiterungen I und II wurden alle genannten Länder auch Mitglieder der Europäischen Union, zuletzt (zum 1. Januar 2007) Rumänien und Bulgarien sowie (zum 1. Juli 2013) Kroatien.

Von Russland wurde die NATO-Osterweiterung immer wieder kritisiert und als Bruch von Zusagen gewertet.

Die geopolitische Situation vor Beginn des Osteuropa-Konflikts

Russland, Rechtsnachfolger der Sowjetunion und größter sowie einflussreichster Staat, der aus deren Zerfall hervorging, versuchte zunächst durch Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) eine Bindung der Nachfolgestaaten an sich zu erreichen. Aufgrund der zahlreichen Interessenskonflikte zwischen ihren Mitgliedsländern konnte die GUS die in sie gesetzten Erwartungen zu keinem Zeitpunkt erfüllen. Das politische Klima zwischen den GUS-Staaten kühlte sich im Laufe der Zeit deutlich ab, Georgien erklärte 2008 während des Kaukasuskriegs seinen Austritt. Unter Protesten Russlands vereinbarten die sechs GUS-Mitglieder Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldawien, Ukraine und Weißrussland im selben Jahr mit der Europäischen Union die „Östliche Partnerschaft“, der Gründungsgipfel tagte 2009. Anfang 2015 hatte die GUS noch zehn Mitglieder mit zusammen rund 220 Mio. Einwohnern.

Stattdessen sah sich Russland einer starken Westorientierung vieler Länder gegenüber. An seiner Westgrenze entstand zwischen Finnland und der Türkei ein Gürtel von Mitgliedsstaaten der NATO. Neben der militärischen Integration schritt auch die politische und wirtschaftliche Integration dieser Länder im Rahmen der EU voran (Mitgliedschaften, Beitrittsverhandlungen). Daneben gab es Staaten wie Moldawien, die Ukraine oder Georgien, die zwar nicht Mitglieder von NATO oder EU geworden waren, die sich aber mehr oder minder stark nach Westen öffneten. Dies äußerte sich zum Beispiel in Assoziierungsabkommen mit der EU oder in der Errichtung von Militärbasen (USA in Georgien). Von allen diesen Staaten setzte sich allein Weißrussland als treuer Verbündeter Russlands ab. In Richtung Mittelasien setzte sich der Gürtel von Staaten, in denen die USA und Russland geopolitische Interessen verfolgten, fort (s. 281.5).

Als wichtiger wirtschaftlicher Hintergrund der Konflikte in Osteuropa erwies sich der Zugang zu Energierohstoffen (zum Beispiel Erdöl am Kaspischen Meer, Erdgas in Turkmenistan) bzw. der Bau von Pipelines zu deren Vertrieb.

Im Rahmen der 2014 gegründeten Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) versuchen Russland, Weißrussland, Kasachstan, Armenien und Kirgisistan eine wirtschaftliche Integration zu erreichen. Mittel dazu ist vor allem die Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes mit Zollunion.

Konflikte in Osteuropa

Gegenwärtig ist die südwestliche Peripherie Russlands durch einen Gürtel aus destabilisierten Regionen von Kaukasus im Osten bis Transnistrien im Westen gekennzeichnet, die eine Reihe von Merkmalen verbindet:

• Dort lebt jeweils eine starke russische Minderheit.

• Es gibt Terroranschläge, Konflikte, die mit Waffengewalt ausgetragen werden, und zum Teil Bürgerkriege.

• Sie liegen nach geltendem Völkerrecht nicht auf dem Staatsgebiet Russlands (mit Ausnahme Tschetscheniens und Dagestans).

• Es haben sich völkerrechtlich nicht anerkannte Gebiete mit Zügen einer eigenen Staatlichkeit herausgebildet (mit Ausnahme Tschetscheniens und Dagestans). Die Krim sieht Russland seit 2014 als Teil seines Staatsgebiets an, dies widerspricht jedoch dem Völkerrecht und wird international nicht anerkannt.

• Die Regionen weisen eine starke direkte russische Militärpräsenz auf (zum Beispiel in Form von Militärbasen und Truppenkonzentrationen jenseits der Grenze). Dennoch leugnet Russland teilweise, direkten Einfluss auf die militärische und politische Entwicklung zu nehmen (zum Beispiel in der Ostukraine).

• Es ist trotz internationaler diplomatischer Bemühungen, zum Beispiel der OSZE, nicht gelungen, die Regionen dauerhaft zu befrieden. Vielerorts, etwa in Transnistrien, hat sich eine Art stabiler Schwebezustand herausgebildet. Die Auseinandersetzungen sind praktisch eingefroren, können aber jederzeit wieder aufflammen.

Die Auseinandersetzungen in der Ukraine und auf der Krim sind zweifelsohne der größte und am stärksten eskalierte Konflikt in Osteuropa. Er entzündete sich im Jahr 2013 am Verzicht des damaligen Präsidenten Jankowytsch auf die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommen der Ukraine mit der EU, vermutlich unter politischer Einflussnahme Russlands.

In der Folge kam es zu Massenprotesten der Bevölkerung in Kiew (Majdan), die von westlichen Politikern unterstützt wurden und schließlich zum Sturz des Präsidenten und zu Neuwahlen führten. Die neue, westlich orientierte Übergangsregierung in Kiew leitete eine zunehmende Abgrenzung von Russland ein.

Im Süden und Osten der Ukraine, wo eine starke russische Minderheit lebt und die ukrainische Industrie wichtige Standorte hat, entstanden – unter anderem aufgrund politischer Ausgrenzung von Seitens Kiews und russischer Einflussnahme – Separationsbestrebungen, die im Falle der Krim zu einem direkten Anschluss an Russland und im Falle der Regionen um Donezk und Luhansk zur Ausrufung der staatlichen Eigenständigkeit führten. Die Ukraine erkannte dies nicht an. Es kam zu lang anhaltenden Kampfhandlungen mit zahlreichen Opfern, die bis Anfang 2015 auch durch internationale diplomatische Bemühungen nicht beendet werden konnten.

Abchasien (250 000 Einwohner, 8600 km2) sieht sich seit 1992 als eigenständigen Staat, wird aber international nur von sehr wenigen Ländern anerkannt (durch Russland: 2008) und gehört nach dem Völkerrecht zu Georgien. Die Regierung wird von Russland finanziell unterstützt, das dort auch mehrere Militärbasen unterhält. Eine ähnliche Position hat Südossetien (50 000 Einwohner, 3900 km2), das seine Unabhängigkeit 2006 erklärt hat. Die Anerkennung durch Russland erfolgte 2008.

In Transnistrien dauert der Konflikt am längsten an. Die Abspaltung des 3600 Quadratkilometer großen, rund 560 000 Einwohner zählenden Gebiets von Moldau erfolgte bereits zwischen 1990 und 1992.

Tschetschenien nimmt eine Sonderrolle ein, da es auf russischem Territorium liegt. Zwischen 1994 und 2009 kam es dort zu zwei Kriegen zwischen tschetschenischen Kampfverbänden und Russland. Sie beendeten die tschetschenischen Unabhängigkeitsbestrebungen. Russland bekämpft tschetschenische Terroristen, die Terroranschläge zum Beispiel in Moskau und Wolgograd ausgeführt haben. Dagestan wurde stark in den Tschetschenienkonflikt hineingezogen. Beide Gebiete sind bis heute Orte zahlreicher Terroranschläge und russischer Gegenoperationen.

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