Europa - 1914

Europa - Europa - Staaten
978-3-14-100800-5 | Seite 84 | Abb. 1| Maßstab 1 : 36000000

Überblick



Die europäische Staatenwelt des frühen 20. Jahrhunderts bewegte sich teils noch in den Grenzen des Wiener Kongresses von 1815, teils hatte sie aber auch einschneidende Veränderungen erfahren. Am gravierendsten zeigten sich diese im Südosten des Kontinents.

Europa 1914

Das größte europäische Staatsgebilde am Vorabend des Ersten Weltkriegs war Österreich-Ungarn, ein Vielvölkerstaat, der u. a. Österreicher, Ungarn, Tschechen, Slowaken, Ukrainer, Serben, Kroaten, Slowenen, Rumänen und Italiener vereinte. Die Donaumonarchie war eine Personal- und Realunion des österreichischen Kaiser- und des ungarischen Königreichs.

Italien war ein fast ebenso junges Staatsgebilde wie das 1871 im Spiegelsaal von Versailles proklamierte Deutsche Reich. 1861 hatte Viktor Emanuel II. den Titel des Königs von Italien angenommen, obgleich er nicht unumstritten und Rom immer noch von Frankreich unter Kaiser Napoleon III. besetzt war. Der Deutsch-Französische Krieg 1870 bot die Gelegenheit, Rom zu erobern und zur Hauptstadt zu machen.

Polen war bei der dritten polnischen Teilung von 1795 vollständig zwischen Preußen, Österreich-Ungarn und Russland aufgeteilt worden und seitdem als eigenständiger Staat von der Landkarte verschwunden. Nach dem Wiener Kongress 1815 wurde es als „Kongresspolen“ in Personalunion mit Russland vereinigt. Das seit 1809 zu Russland gehörende Großherzogtum Finnland genoss im 19. Jahrhundert eine Teilautonomie. Ihre vorübergehende Beseitigung durch Zar Alexander III. im Jahre 1899 wurde sechs Jahre später durch Zar Nikolaus II. widerrufen.

Island , seit dem 14. Jahrhundert zu Dänemark gehörend, hatte ebenfalls in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Teil-autonomie erlangt.

Spanien hatte seit der Besetzung durch die napoleonischen Truppen viele Jahrzehnte fortwährender Unruhen und politischer Machtkämpfe erlebt. Erst mit der Verfassung von 1876 hatte sich die innenpolitische Lage wieder stabilisiert. Allerdings musste die einstmals bedeutendste Kolonialmacht der Welt am Ausgang des 19. Jahrhunderts den Verlust von nahezu allen außereuropäischen Besitzungen hinnehmen; die meisten fielen nach kriegerischen Auseinandersetzungen an die USA.

Der Weg in den Weltkrieg

Die politischen Spannungen unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg hatten ihre Wurzeln im ausgehenden 19. Jahrhundert. In den 1880er-Jahren hatte mit dem als „Scramble for Africa“ apostrophierten Kampf um überseeische Kolonien das Zeitalter des Imperialismus begonnen. Alle europäischen Großmächte gingen auf Eroberungen aus, und alle, bis auf Österreich-Ungarn, führten Krieg, um ihr Besitzrecht auf andere Kontinente auszudehnen. Zugleich vollzog sich innerhalb der Industriegesellschaften ein Bruch mit den nationalstaatlichen Vorstellungen und liberalen Traditionen des 19. Jahrhunderts. Die Annexionsgelüste trieben zwischen den Staaten Neid und einen aggressiven Nationalismus hervor; vor allem im Deutschen Reich, das sich von Feinden umzingelt und um die ihm vermeintlich zustehenden Kolonien betrogen wähnte.

Die riskante deutsche Außenpolitik unter Wilhelm II., der, vor allem nach der Entlassung Bismarcks, wiederholt die benachbarten Mächte brüskierte und offen das ambitionierte Vorhaben zur Gründung einer „starken deutschen Flotte“ aussprach (83.6), alarmierte die europäischen Staaten. Die beiden Marokkokrisen von 1905 und 1911 und die Annexion Bosniens und der Herzegowina durch Österreich im Sommer 1908 trugen ihr Übriges bei. Sowohl die Alliierten Großbritannien, Frankreich und Russland als auch die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn bereiteten sich auf kriegerische Auseinandersetzungen vor, auch durch die Entwicklung neuartiger Waffensysteme. Gleichzeitig wuchsen – mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht – die Streitkräfte der kontinentaleuropäischen Mächte zu Millionenheeren an.

Der Erste Weltkrieg zeigte erstmals in aller Deutlichkeit die Schattenseiten der Moderne und des Fortschritts. Nicht Armeen, sondern ganze Völker bekämpften einander. Die Entwicklung der Kommunikationsmittel und neuer Formen der Propaganda ermöglichten den kriegstreibenden Kräften, binnen Tagen ganze Länder zu mobilisieren. Zugleich standen den Militärs neue Massenvernichtungswaffen wie Maschinengewehre und Giftgasgranaten zur Verfügung; Flugzeuge wurden zur Luftaufklärung und zur Ortung des Feindes eingesetzt. Zu Opfern dieses Krieges wurden etwa zehn Millionen Menschen aus 32 beteiligten Staaten.

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