Deutschland - Phasen der Stadtentstehung

Deutschland - Deutschland - Historische Stadtentwicklung
978-3-14-100803-6 | Seite 74 | Abb. 1

Überblick

Die meisten Stadtgründungen in Deutschland erfolgten im Mittelalter. Zuvor waren es vor allem die Römer, die in ihrem Herrschaftsbereich Städte gründeten. Im Barock legten absolutistische Herrscher planmäßig Residenzstädte an. Die Gründungen des 19. und 20. Jahrhunderts waren eng an die dynamische wirtschaftliche Entwicklung und besondere politische Bedingungen gebunden. Jede dieser Phasen weist charakteristische Grundrisse und Merkmale auf, die sich in den ältesten Städten Deutschlands überlagern.

Die Städtegründungen während der Expansion des Römischen Reichs folgten einem klaren Schema. Es ist bis heute in den Stadtgrundrissen zum Beispiel von Trier und Regensburg erkennbar. Das Gebiet der geschlossenen Bebauung hatte annähernd die Form eines Quadrats, war zum Schutz von eng gezogenen Mauern umgeben und militärisch stark gesichert. Römische Städte zeigten neben einer sozialräumlichen Gliederung nach Nachbarschaften und sozialen Klassen eine gute Ausstattung, zum Beispiel hinsichtlich der Wasserversorgung oder der Verbindung in andere Teile des Römischen Reichs (Fernstraßen). Römische Stadtgründungen sind in Deutschland entlang des Rheins und im Alpenvorland zu finden. Die Donau und der Limes bildeten die Grenzlinie nach Norden bzw. Nordosten.

Auf den Zusammenbruch des römischen Weltreichs folgte eine lange Phase ohne nennenswerte Stadtgründungen. Für die Herausbildung des deutschen Städtesystems war erst das Mittelalter wieder von entscheidender Bedeutung. Einige römische Gründungen, zum Beispiel Köln, erlangten eine Siedlungs- und Bedeutungskontinuität durch die Ansiedlung von geistlichen Herrschern (Sitz von Bistümern). Eine wahre Stadtgründungswelle erfasste das gesamte Deutsche Reich. Dabei standen zunächst wirtschaftliche Gesichtspunkte im Vordergrund. Ab dem 13. Jahrhundert wurden Stadtgründungen verstärkt zum Instrument für den Ausbau der Landesherrschaft und zur Territorialsicherung.

Die mittelalterlichen Städte waren nach Bevölkerung und Fläche meist klein, mehr oder weniger eng gebaut und besaßen in der Regel eine häusliche Einheit von Wohnen und Arbeiten. Sie hoben sich von ihrem Umland markant ab: physiognomisch durch ihre Silhouette, räumlich durch ihre Größe und Ummauerung, rechtlich durch eine Reihe von Privilegien, zum Beispiel das Befestigungs-, Markt-, Stapel- und Münzrecht, die eigene Gerichtsbarkeit und Bürgerrechte. Der Zusammenschluss von Interessensgruppen einzelner Berufsstände (Gilden der Kaufleute, Zünfte der Handwerker) sowie ganzer Städte zu Städtebünden (z. B. Hanse) stärkte das ökonomische und politische Gewicht der Städte. Um 1500 gab es in Deutschland ein dichtmaschiges Netz aus rund 4000 Städten.

Damit bestand kaum noch Raum für Erfolg versprechende Stadtgründungen; ihre Zahl ging daher um 1500 stark zurück. Zur Zeit des Absolutismus kam es zur Anlage von barocken Residenzstädten, zum Beispiel Karlsruhe 1715 (s. 74.3). Sie spiegelten in Grund- und Aufriss den Absolutheitsanspruch der fürstlichen Territorialherrscher wider, waren in Blöcke unterteilt und kompakt bebaut. Geometrisch angelegte Sichtachsen mit dem Schloss im Zentrum sowie ausgedehnte Park- und Gartenanlagen machten diese Städte zu Gesamtkunstwerken. Als Residenz- und Verwaltungsstädte gewannen einige von ihnen Größe und Bedeutung und konnte ihre Stellung auch während der Industrialisierung behaupten.

Die letzte größere Städtegründungswelle in Mitteleuropa steht im Zusammenhang mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Die Städte knüpften an neue Fabriken oder Bergwerke an, die kaum in die vorhandenen Städte zu integrieren waren. Vor allen in den Jahren nach der Reichsgründung (1871) entwickelten sich in den Kerngebieten der Montanindustrie (z. B. im Ruhrgebiet) planlos wuchernde Agglomerationen mit rascher Zersiedelung der Landschaft durch Zechen, Hütten und andere Fabriken, Arbeitersiedlungen und Verkehrsstränge. Der ungezügelte Kapitalismus führte im Zusammenhang mit fehlenden Restriktionen zu einer ausufernden Bodenspekulation. Die Städte wurden aber zunehmend zu politischen Akteuren und entwickelten geeignete Instrumentarien für eine planmäßige Entwicklung der Stadtstrukturen.

Die Stadtgründungen des 20. Jahrhunderts haben sehr heterogene Hintergründe. Wolfsburg, 1938 gegründet (s. 37.4) war beispielsweise eine geplante Industriestadt mit engem Bezug auf einen Großstandort (Automobilbau). Die Geschichte von Wilhelmshaven ist an den wichtigsten Hafen der deutschen Marine gebunden – dies gilt bis heute. Baunatal entstand durch einen Zusammenschluss vormals selbstständiger Gemeinden im Jahr 1964 und erhielt 1966 das Stadtrecht durch die hessische Landesregierung. Auslöser war hier die rasante Bevölkerungsentwicklung nach Ansiedlung eines Standorts des VW-Konzerns.

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