Deutsches Reich - 1900

Deutschland - Deutschland - Historische Entwicklung
978-3-14-100800-5 | Seite 83 | Abb. 6| Maßstab 1 : 12500000

Überblick

Das Deutsche Reich von 1900 war ein Zusammenschluss aus den vier Königreichen Preußen, Bayern, Württemberg und Sachsen, aus sechs Großherzogtümern, fünf Herzogtümern, sieben Fürstentümern, den drei freien Städten Lübeck, Hamburg (mit der „Landgemeinde“ Cuxhaven) und Bremen (mit Bremerhaven) und dem Reichsland Elsass-Lothringen, das die Deutschen nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 – gegen den erklärten Willen der dort lebenden Bevölkerung – annektiert hatten und das wie eine preußische Provinz verwaltet wurde.

Die Verfassung des Deutschen Reichs

Die Verfassung des am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Versailler Schlosses von den deutschen Fürsten proklamierten Staatsgebildes war streng monarchisch und konservativ. Der preußische König war in Personalunion zugleich auch Kaiser und damit erblicher Präsident des Bundesstaats. Er war völkerrechtlicher Vertreter des Reichs, Oberbefehlshaber der Streitkräfte, berief den Bundesrat und den Reichstag ein und ernannte vor allem den Reichskanzler. Letzterer war als leitender Vorgesetzter aller Staatssekretäre zugleich Chef der Regierung, preußischer Ministerpräsident und Vorsitzender des Bundesrats.

Der Bundesrat war das wichtigste Organ des Reichs. Als Fürstenkammer bildete er das Gegengewicht zum erheblich weniger mächtigen Reichstag, der zwar mit einigen Einschränkungen – wahlberechtigt waren ausschließlich Männer über 25 Jahre – demokratisch gewählt war, aber nur über eingeschränkte Rechte verfügte und beispielsweise dem Reichskanzler nicht das Misstrauen aussprechen und ihn damit stürzen konnte. Die 58 Mitglieder des Bundesrats hingegen konnten durchaus den Reichstag auflösen, den Notstand ausrufen und Kriegserklärungen beschließen, außerdem hatten sie Kontrollrechte und die Gesetzesinitiative. Die einzelnen Bundesstaaten wurden von Preußen dominiert, waren in ihren inneren Angelegenheiten aber weitgehend autonom. Die angeschlossenen Königreiche und freien Städte hatten noch immer einige Hoheitsrechte, sogenannte Reservatrechte, im Militär-, Steuer- und Zollwesen, Bayern und Württemberg hielten noch bis 1920 an ihrer eigenen Posthoheit mit je eigenen Wertzeichen fest.

Beginn der nationalen Einigung

Im Jahre 1900 waren Deutschland und Italien die jüngsten Staatswesen in Europa. Die Forderung nach einer staatlichen Einigung des in vornapoleonischer Zeit noch in zahllose, zum Teil kleinste autonome Herrschaften zersplitterten Landes wurde in den ersten Jahrzehnten nach der Französischen Revolution vor allem von den freiheitlichen und liberalen Kräften getragen, die sich von der nationalen Einigung eine Verfassung versprachen. Diese liberalen Bestrebungen wurden nach dem Sturz Napoleons in der Ära Metternich in Deutschland mit allen Mitteln der staatlichen Repression unterdrückt. Zugleich aber mussten auch die restaurativen Kräfte eingestehen, dass die Zersplitterung Deutschlands zunehmend zu einem Hindernis für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes wurde, weil die zahllosen Zollschranken an den Grenzen der Bundesmitglieder den Handel und damit auch die Gründung von Manufakturen und Fabriken lähmten. Die fiskalischen Hürden machten den Güterverkehr zeitraubend und teuer, zugleich begünstigten sie das Schmugglerwesen. Ein erster Schritt zur nationalen Einigung war die Gründung des Deutschen Zollvereins zum 1. Januar 1834, dem sich zunächst 18 und in den folgenden 20 Jahren auch die meisten anderen deutschen Staaten anschlossen.

Bismarck und die Reichsgründung

Das Deutsche Kaiserreich von 1871 war jedoch in erster Linie eine Schöpfung von Otto von Bismarck, der, aus dem alten preußischen Landadel stammend, seine politische Karriere 1847 als konservatives Mitglied des Vereinigten Landtags begonnen hatte, vier Jahre später als preußischer Abgeordneter in den Deutschen Bundestag eingezogen war und anschließend in St. Petersburg und Paris gewirkt hatte, bis ihn der preußische König Wilhelm I. im Jahre 1862 zum Ministerpräsidenten ernannte. Bismarcks erklärtes Ziel war die deutsche Einigung unter preußischer Führung, die jedoch nach seiner Überzeugung nur unter dem Ausschluss Österreichs erreicht werden konnte.

Nach dem preußischen Sieg im Deutsch-Dänischen Krieg 1864 nutzte Bismarck den sich immer stärker abzeichnenden preußisch-österreichischen Dualismus zu einem militärischen Kräftemessen mit Österreich, das im Juli 1866 mit der Schlacht bei Königgrätz entschieden wurde. Das unterlegene Wien musste der Auflösung des Deutschen Bundes und seinem Ausscheiden aus der deutschen Politik zustimmen, das siegreiche Preußen annektierte neben Schleswig und Holstein Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt, wodurch erstmals ein zusammenhängendes preußisches Staatsgebiet zwischen Maas und Memel entstand. Wenige Tage später schloss sich die vergrößerte norddeutsche Großmacht mit den freien Städten Hamburg, Bremen und Lübeck und 22 kleineren und mittelgroßen deutschen Staaten nördlich des Mains zum Norddeutschen Bund zusammen. Im Deutsch-Französischen Krieg 1870/1871, den Bismarck durch die redaktionelle Bearbeitung der „Emser Depesche“ geschickt lanciert hatte, kam der Prozess der deutschen Einigung zu seinem Abschluss, weil nun für die süddeutschen Staaten, die Preußen traditionell skeptisch gegenüberstanden, der Bündnisfall eintrat. Nach dem Sieg bei Sedan am 1. September 1870 und der Gefangennahme von Kaiser Napoleon III. war der Krieg im Wesentlichen entschieden. In Frankreich wurde nur Tage später die Republik proklamiert, im Januar 1871 riefen die deutschen Fürsten den preußischen König Wilhelm I. zum deutschen Kaiser aus und begründeten damit ein in Deutschland umjubeltes und von vielen Hoffnungen begleitetes, kleindeutsches Kaiserreich.

Wilhelminische Epoche und außenpolitische Isolation

Trotz der anfänglichen Begeisterung wurde die Reichsgründung von manchen Zeitgenossen als unvollendet empfunden, denn sie beruhte tatsächlich auf einer Vielzahl von Kompromissen zwischen den liberalen und nationalen Kräften und der konservativen Staatsführung in Preußen. Gemessen an den freiheitlich-liberalen Zielen der Märzrevolution von 1848 bedeutete sie eine Niederlage für das aufgeklärte Bürgertum. Der neue Reichskanzler nutzte alle Möglichkeiten, um rigoros gegen seine beiden innenpolitischen Hauptgegner, die katholische Zentrumspartei und die aufstrebende Arbeiterbewegung, vorzugehen. Trotz seines Konfrontationskurses im Innern agierte er außenpolitisch umsichtig und defensiv. Er knüpfte wiederholt Bündnisse mit Österreich und Russland, hielt sich in den kolonialen Ausein-andersetzungen der europäischen Mächte betont zurück und achtete peinlichst darauf, Großbritannien nicht zu verprellen, um auf diese Weise eine Allianz zwischen Paris und London zu verhindern.

Dies änderte sich, als Kaiser Wilhelm I. 1888 starb und sein 29-jähriger Sohn als Wilhelm II. den deutschen Thron bestieg. Der neue Kaiser war in gewisser Weise ein Parvenü, der persönlich zur Großspurigkeit neigte und in politischen Dingen ohne jegliches Augenmaß agierte. Erklärtermaßen sollte das Reich, das innerhalb weniger Jahre zu einer der führenden europäischen Großmächte aufgestiegen war, nun auch als Kolonialmacht reüssieren.

Typisch für die Wilhelminische Epoche waren die im Rückblick geradezu grotesk erscheinenden Reden des Kaisers, in denen er sich zu einem mittelalterlichen Ritter stilisierte, der in schimmernder Wehr für die deutsche Stahlindustrie kämpfte oder sich zügellosen Omnipotenzfantasien überließ, die im Ausland für erhöhte Alarmbereitschaft sorgten. Wegen unaufhebbarer Differenzen mit dem neuen Regenten musste Bismarck 1890 seinen Rücktritt einreichen.

Unter seinem Nachfolger Leo von Caprivi endete die für seine Epoche typische Politik der Saturiertheit und der außenpolitisch klugen Selbstbeschränkung. Der Kaiser brüskierte zunächst Russland durch die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages, danach brachte er systematisch auch Frankreich und Großbritannien gegen sich auf.

Um die Jahrhundertwende schossen überall im Reich nationalpatriotische Vereinigungen wie der „Alldeutsche Verband“ und der „Deutsche Flottenverein“ aus dem Boden, Uniformen prägten zunehmend das Straßenbild. Zugleich war Deutschland auf dem besten Wege, sich durch Flottenrüstung, Großmachtstreben und Selbstüberschätzung außenpolitisch ins Abseits zu manövrieren und dadurch die entscheidenden Weichen für den Ersten Weltkrieg zu stellen.

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