Brasilien - Regionale Entwicklungsunterschiede

Amerika - Brasilien - Entwicklung und Nachhaltigkeit
978-3-14-100803-6 | Seite 236 | Abb. 1| Maßstab 1 : 40000000

Überblick

Mit rund 201 Mio. Einwohnern (2014) ist Brasilien hinsichtlich seiner Bevölkerung das fünftgrößte Land der Erde nach China, Indien, den USA und Indonesien. Dennoch liegt die Bevölkerungsdichte nur bei 22,4 Einwohnern pro Quadratkilometer – einem Zehntel des deutschen Werts –, weshalb Brasilien noch immer in weiten Gebieten den Eindruck eines dünn besiedelten Landes erweckt. Tatsächlich bestehen innerhalb Brasiliens erhebliche Dichteunterschiede: Die Daten schwanken zwischen 2 E./km2 im Bundesstaat Roraima und 364 E./km2 im Bundesstaat Rio de Janeiro bzw. 403 E./km2 im Bundesdistrikt Brasília.

Besiedlung und Bevölkerungsdichten

Bei der räumlichen Verteilung der brasilianischen Bevölkerung gibt es ein auffälliges Muster: In der tropischen Regenwaldregion im Nordwesten, namentlich in den Bundesstaaten Acre, Amazonas, Roraima und Amapá, ist die Bevölkerungsdichte am niedrigsten, zu den städtischen Verdichtungsräumen an der südöstlichen Küste nimmt sie immer stärker zu (s. 228.4). Eine gewisse Ausnahme von dieser Regel macht der Bundesdistrikt (Distrito Federal do Brasil) rund um die Hauptstadt Brasília, der als der am dichtesten besiedelte Landesteil inselhaft im ansonsten nur dünn bevölkerten Bundesstaat Goiás (18 Einw./km2) liegt. An der Ostküste ist die Bevölkerungsdichte allerdings keineswegs einheitlich. Ein klarer Schwerpunkt liegt hier zum einen rund um Rio de Janeiro und die angrenzenden Bundestaaten Espírito Santo und São Paulo sowie zum anderen in der nordöstlichen Spitze des Landes zwischen Rio Grande do Norte und Alagoas bzw. Sergipe. Die zwischen diesen beiden Regionen liegenden Bundesstaaten Bahia und Minas Gerais sowie der Bundesstaat Rio Grande do Sul sind dagegen vergleichsweise dünn besiedelt.

Entwicklungsunterschiede und Binnenmigration

Zwischen 2005 und 2010 hat es, wie in den Jahren zuvor, innerhalb Brasiliens erhebliche Bevölkerungswanderungen gegeben, wobei sich die Wanderungsgewinne und -verluste über das Land verteilen, ohne ein eindeutiges großräumiges Muster zu ergeben – abgesehen von der Tatsache, dass die Wanderungsbewegungen im stärker besiedelten Osten aus naheliegenden Gründen deutlich höher sind als im dünn besiedelten Westen. Die stärksten Wanderungsbewegungen sind zwischen dem Nordosten und dem Südosten zu verzeichnen, mit annähernd gleich großen Zahlen für beide Richtungen. Als Hauptziele lassen sich darüber hinaus der Zentralwesten und Paraná ausmachen, hier jeweils mit deutlichen Wanderungsgewinnen für diese Landesteile.

Eine leichte Trendwende hat es im wirtschaftlich noch immer unterentwickelten Nordosten gegeben, der in den Jahren zuvor starke Abwanderungsverluste hinnehmen musste, nun aber dank der Zuwanderungsgewinne von Rio Grande do Norte, Paraiba und Sergipe eine relativ ausgeglichene Wanderungsbilanz vorweisen kann. Eine auffällige Veränderung im Süden ist, dass die Bundesstaaten Rio de Janeiro und São Paulo nach Jahren des Wachstums erstmals wieder Abwanderungsverluste registrierten. Die Zugewinne in der nordwestlichen Amazonasregion folgen im Wesentlichen einem langjährigen Trend. Eine neue Entwicklung ist hier lediglich, dass nun auch Acre von der Zuwanderung profitiert.

Bevölkerungsbewegungen werden durch vielfältige Faktoren ausgelöst, wobei Unterschiede in den Lebensbedingungen, hier erfasst durch eine räumlich differenzierte Darstellung des HDI (s. 274.1), und wirtschaftliche Gegensätze eine ausschlaggebende Rolle spielen. Brasilien ist nach wie vor von starken sozialen und regionalen Gegensätzen geprägt. Der Südosten verfügt – nicht zuletzt dank der starken Einwanderung aus Europa – über eine moderne, leistungsfähige Infrastruktur in den Bereichen Transportwesen, Banken und Handel, die Lebensbedingungen sind hier nach dem HDI-Index mindestens durchschnittlich, in weiten Gebieten sogar gut. Die negative Wanderungsbilanz der Metropolen Rio de Janeiro und São Paulo kann zumindest teilweise mit den schwierigen Lebensbedingungen für arme Zuwanderer erklärt werden (s. Favelas, 236.3) vor allem mit der erfolgreichen Armutsbekämpfung der Regierung (s. u.) und der zunehmend besseren wirtschaftlichen Entwicklung außerhalb des Südostens, sodass wichtige Abwanderungsmotive wegfallen.

Der Norden liegt gegenüber dem Südosten wirtschaftlich deutlich zurück, auch die Lebensbedingungen sind hier im Durchschnitt wesentlich schlechter, dafür weist er in jüngster Zeit die höchsten Wachstumsraten auf. Hintergrund solcher – scheinbar widersprüchlicher – Strukturen und Wanderungsbewegungen ist die Erschließung Amazoniens, insbesondere die Agrarkolonisation (s. 237.4–5, auch 265.4).

Die Lebensbedingungen der brasilianischen Bevölkerung haben sich in den letzten 20 Jahren in der Summe stark verbessert (s. Grafik in der Karte), auch die Armutszahlen konnten signifikant verringert werden. Zu verdanken ist dies unter anderem umfangreichen Investitionen im Energie-, Wohnungsbau-, Transport- und Stadtentwicklungssektor, die im Rahmen des Programmes zur Beschleunigung des Wachstums unter den Regierungen von Luiz Inácio Lula da Silva (ab 2002) und seiner Amtsnachfolgerin Dilma Rousseff (ab 2011) geplant und in Angriff genommen wurden. Der Anteil der extrem armen Menschen, die nach den Weltbank-Kriterien von weniger als 1,25 US-Dollar täglich leben, konnte dadurch von 17 Prozent im Jahre 1993 auf 5 Prozent im Jahre 2012 gesenkt werden – womit Brasilien ein zentrales Millenniums-Entwicklungsziel, die Senkung der Armut, vorzeitig erreicht hat. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag 2013 mit 11 300 US-Dollar doppelt so hoch wie der Durchschnitt der Länder mittleren Einkommens (nach Angaben der Weltbank: 4721 US-Dollar).

Trotz dieser Fortschritte lebten im Jahr 2012 noch immer etwa 10 Mio. Menschen in extremer Armut und 31 Mio. Brasilianer (16 Prozent der Bevölkerung) in relativer Armut, was bedeutet, dass sie über deutlich weniger als das durchschnittliche Einkommen verfügen. Besonders hoch ist der Anteil der Armen im Nordosten und Norden sowie in den Favelas, den Elendsquartieren der großen Metropolen (236.3), die es auch in Regionen mit generell „guten“ Lebensbedingungen noch immer in großer Zahl gibt. Nicht zuletzt aufgrund dieser ausgeprägten sozialen Disparitäten haben Großstädte wie Rio de Janeiro oder São Paulo nach wie vor massive Probleme mit Kriminalität, Drogendelikten und Bandenstrukturen. Die Verringerung der Armutsquote und der ungleichen Einkommensverteilung innerhalb der brasilianischen Gesellschaft durch Infrastrukturmaßnahmen und eine Verbesserung des Sozial- und Gesundheitswesens wird auch weiterhin auf der Agenda der Regierung weit oben stehen müssen, wenn sie einer Verschärfung der sozialen Konflikte, wie sie im Umfeld der Fußballweltmeisterschaft 2014 artikuliert wurden, entgegenwirken und die soziale Kohärenz stärken möchte.

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