Brasília - Hauptstadt seit 1960

Amerika - Brasilien - Entwicklung und Nachhaltigkeit
978-3-14-100800-5 | Seite 237 | Abb. 6| Maßstab 1 : 250000

Überblick

Die Verlegung der brasilianischen Hauptstadt von Rio de Janeiro nach Brasília im Jahre 1960 ist im weltweiten Vergleich durchaus kein singuläres Phänomen: in Australien beispielsweise wechselte sie von Melbourne nach Canberra, in Tansania von Daressalam nach Dodoma. Im Falle Brasiliens wurden entsprechende Überlegungen erstmals im 18. Jahrhundert angestellt. Gemeinsam war den genannten Initiativen der Versuch, durch eine Hauptstadtverlegung von der Küste ins Hinterland die Entwicklung des Landesinneren voranzutreiben.

Stadtarchitektur und Ordnungskonzepte

Die Gründung und Anlage Brasílias war ein urbanistisches Experiment. Dies drückt der symbolhafte Grundriss aus, der einem Flugzeug gleicht, dessen bogenförmige Tragflächen von den „Superquadras“ gebildet werden. Jede „Superquadra“ besteht aus acht bis elf maximal siebengeschossigen Wohnblocks. Ausgelegt ist ein solches Viertel für etwa 3000 bis 5000 Einwohner, es besitzt jeweils einen Kindergarten und eine Grundschule. Jede „Nachbarschaft“ ist zusätzlich mit Oberschule, Kirche, Sportstätten und Versorgungseinrichtungen des täglichen Bedarfs ausgestattet.

In diesen Wohnvierteln der Mittelschicht leben viele Beamte und Angestellte der Regierung. Ihre Arbeitsstätten liegen zu einem Großteil im vorderen Abschnitt des „Flugzeuges“, im Regierungsviertel nahe dem Platz der drei Gewalten. Von dort aus verläuft eine zentrale Ost-West-Achse als Hauptgeschäfts- und Kulturzentrum vorbei am Fernsehturm bis zum Bahnhof.

Für die Konzeption Brasílias grundlegend waren drei – zurzeit der Planung hochaktuelle – städtebauliche Ordnungsideen: Erstens das Prinzip der räumlichen Funktionsteilung, wie es 1933 in der „Charta von Athen“ niedergelegt worden war, zweitens die Idee der Nachbarschaftseinheit, die Ebenezer Howard 1904 in seiner Gartenstadtkonzeption entfaltet hatte, und drittens der Grundsatz der entflochtenen Verkehrswege durch kreuzungsfreie Autostraßen und ein davon unabhängiges Fußgängernetz. Der stärkste Protagonist dieses Verkehrskonzepts, der Brasilianische Stadtplaner Lúcio Costa, übernahm die Gesamtplanung für die Gestaltung Brasílias.

Probleme der praktischen Umsetzung

Die Umsetzung dieser Ordnungsideen erwies sich jedoch als problematisch. Durch die Trennung sich gegenseitig störender Funktionen ist eine überaus weiträumige Stadt entstanden, in der das Auto eine dominierende Rolle spielt. Deshalb wurde bereits moniert, dass die Einwohner Brasília in erster Linie „durch die Windschutzscheibe“ erleben; ein unvermitteltes Stadterlebnis stellt sich kaum ein. Die breiten Verkehrsschneisen trennen mehr als sie verbinden. Der Autoverkehr ist zwar gut kanalisiert, doch vor allem zu Lasten der Fußgänger.

Als ebenso wenig tragfähig erwies sich die Hoffnung, soziale Segregationsprozesse im Sinne der Gleichheitsidee zu verhindern. Die erhoffte soziale Durchmischung blieb aus, weshalb das Konzept von den Stadtvierteln als Kommunikationsräumen ein Wunsch blieb. Stattdessen herrscht eine starke Trennung zwischen den Vierteln der Ober-, Mittel- und Unterschicht, wobei letztere weitgehend aus dem Zentrum verdrängt wurde. Lediglich im Westen der Stadt, im Nordosten des Regierungsviertels und nördlich des Paranoá-Staudamms gibt es noch Armutsviertel und Favelas, doch überwiegend wurden die Armen in die angrenzenden Satellitenstädte abgedrängt, während sich die Villenviertel der Oberschicht im Zentrum immer stärker ausgedehnt haben, vor allem an den Ufern des Paranoá-Stausees.

Ausstrahlung auf das Umland

Nicht nur in der Kernstadt, auch in dem rund um die Hauptstadt liegenden Bundesdistrikt, dem Distrito Federal do Brasil, lief die Entwicklung anders als von den Planern vorgesehen. Der Beginn der Bauarbeiten löste eine heftige und unkontrollierte Zuwanderung aus dem näheren und ferneren Umland aus. Zwischen 1957 und 1959 beispielsweise wanderten jeden Monat etwa 2400 Menschen zu. Sie kamen in der Hoffnung auf Arbeit. Durch diesen starken Zuzug entstanden am Rande der Baustellen zahlreiche Spontansiedlungen. Die Annahme der Planer, dass es sich dabei lediglich um ein temporäres Phänomen handeln und die Mehrzahl dieser Zuwanderer nach Beendigung ihrer Tätigkeit wieder in ihre Heimatregion zurückkehren würde, erwies sich als falsch. Noch vor der Einweihung Brasílias wurden deshalb erste Vororte wie Taguatinga, Gama und Sobradinho angelegt, zu denen sich später weitere Satellitenstädte gesellten. Während sich die Ober- und Mittelschicht in der Hauptstadt mit ihrer vergleichsweise hohen Lebensqualität konzentriert, sind die Vorstädte durch Armut und ihre Begleiterscheinungen, etwa steigende Kriminalitätsraten, geprägt.

Inzwischen ist der Distrito Federal do Brasil mit 403 Einwohnern pro Quadratmeter die am dichtesten besiedelte Region Brasiliens, noch vor São Paulo. 2014 lebten etwa 450 000 Menschen in der Hauptstadt und rund 2,4 Mio. Menschen im Bundesdistrikt. Die Bevölkerungsentwicklung sowohl der Stadt als auch des Distriktes Brasília sind durch anhaltendes Wachstum gekennzeichnet (s. Grafik in der Karte).

Die Hoffnungen auf eine wirtschaftliche und infrastrukturelle Entwicklung des Landesinneren haben sich jedoch, trotz der starken Zuwanderung, nur zum Teil erfüllt, auch wenn der Einfluss der Metropolregion Brasilia bis in die benachbarten Bundesstaaten Goiás und Minas Gerais reicht.

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