Berlin - Industriestadt 1840-1880

Deutschland - Hauptstadt Berlin
978-3-14-100800-5 | Seite 38 | Abb. 1| Maßstab 1 : 100000

Überblick

Ein Rückblick auf das 19. Jahrhundert verdeutlicht, wie stark einige prägende Merkmale der heutigen Stadtgestalt historisch bestimmt sind, darunter die Dichte der Wohnbebauung im Zentrum und die strahlenförmig an den Verkehrslinien orientierte Stadtentwicklung. Die Karte zeigt aber vor allem, in welchem Maße das Flächenwachstum der Wohnbebauung in Berlin eine Folge der Industrialisierung war.

Stadtstrukturen und Wohnbebauung

Bis 1840 bestand Berlin aus drei unterschiedlichen Teilen: dem im Mittelalter begründeten Kern (mit den beiden ursprünglich selbstständigen Stadtgründungen Berlin und Cölln), den planmäßig angelegten Stadterweiterungen westlich davon (Dorotheenstadt und Friedrichstadt) und einem Ring ärmlicher Vorstädte im Norden, Osten und Süden. An den Wassergräben in der Karte lässt sich der Verlauf der ehemaligen Stadtbefestigung erkennen.

Die Stadt selbst hob sich deutlich vom Umland ab. Mietskasernen und Villenviertel gab es damals noch nicht. Die barocke Stadtanlage Charlottenburgs bildete zunächst einen Gegenpol zur königlichen Residenz Berlin. In der Umgebung befanden sich zahlreiche Dörfer (Wilmersdorf, Tempelhof, Weißensee usw.), die später zunächst eigenständige Städte wurden, dann aber im 20. Jahrhundert in der Stadt Berlin aufgingen.

Der Zustrom von Land- und Kleinstadtbewohnern wurde zunächst vor allem durch die Industrialisierung, nach 1871 auch durch die neu gewonnene Funktion als Hauptstadt des Deutschen Reiches gefördert. Die Bevölkerung Berlins vervierfachte sich zwischen 1764 und 1858 von 120 000 auf 460 000, obwohl sich die Stadtfläche nicht wesentlich vergrößerte. Ursache dieses Bevölkerungswachstums war neben der Zuwanderung auch die natürliche Bevölkerungsentwicklung.

Die Errichtung von Wohnraum für die rasch wachsende Bevölkerung und die Erschließung von Industriestandorten führten in den 1860er-Jahren zu einem raschen Wachstum Berlins. Die Wohnbebauung erfolgte ringförmig um den Entwicklungskern, der um 1840 bestanden hatte. Nur im Westen war der Ring der Stadterweiterungen durch den Tiergarten unterbrochen. Ab 1862 legte der Hobrecht-Plan die Grundlagen für die Erschließung neuer Wohngebiete für bis zu zwei Millionen Menschen. Darin wurde u. a. der Straßenverlauf für bis dahin unbebaute Flächen festgelegt. Durch das weitmaschig geplante Straßennetz entstanden Blöcke mit großen Grundstückstiefen, in denen die damalige Berliner Bauordnung eine sehr dichte Bebauung ermöglichte.

Auf der Grundlage des Hobrecht-Plans entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der sogenannte Wilhelminische Mietskasernenring. In der Regel wurden fünfgeschossige Häuser über einem bewohnbaren Kellergeschoss errichtet, die Bevölkerungsdichte war extrem hoch. Die äußere Begrenzung des Mietskasernenrings entsprach etwa dem Verlauf der später gebauten Ringbahn.

Das Gebiet war allerdings nicht einheitlich, was die Ausstattung der Häuser und die sozialen Strukturen anbelangte. Im Westen und Südwesten konnten die selbstständigen Gemeinden, vor allem Charlottenburg, Häuser mit großen Wohnungen in räumlicher Trennung von Gewerbebetrieben errichten lassen, während im Norden, Osten und Südosten hauptsächlich Arbeiterviertel entstanden. Vor allem in den Arbeitervierteln kam es zur räumlichen Vermischung von Wohnhäusern und Gewerbebetrieben.

Phasen der Industrialisierung

Bis 1800 war Berlin, nicht zuletzt durch den Zuzug der Hugenotten aus Frankreich, in erster Linie eine Textilstadt. Bis 1850 gewann die Verarbeitung von Stoffen gegenüber ihrer Herstellung stark an Bedeutung. Während die Zahl der Weber zurückging, erlebte die Bekleidungsindustrie einen Aufschwung. Immer mehr Heimarbeiterinnen fanden in der Verarbeitung eine Beschäftigung. Die vorhandene Textil- und Bekleidungsindustrie begünstigte die Entwicklung des Maschinenbaus. Nachdem Preußen im Norden Berlins vor dem Oranienburger Tor die Königliche Eisengießerei als Musterbetrieb gegründet hatte, entwickelte sich dort unter englischer Assistenz das Zentrum des Maschinen- und Schienenfahrzeugbaus. Beide Branchen wurden zu Schlüsselindustrien der ersten Industrialisierungsphase und ermöglichten einen hohen Produktivitätsfortschritt.

In der zweiten Phase der Industrialisierung siedelte sich die chemische Industrie in der Nähe von Gaswerken an, deren Rückstände und Nebenprodukte sie verarbeitete. Immer bedeutsamer wurde außerdem die Elektroindustrie. Bereits im Jahre 1900 waren von den insgesamt 66 000 Beschäftigten in diesem Industriezweig in Deutschland rund 80 Prozent in Berlin zu finden. Die sprunghafte Entwicklung beider Branchen stand in engem Zusammenhang zur Förderung der technisch orientierten Wissenschaften (Hochschulen) durch den Staat. Die räumliche Verlagerung der größer werdenden Industrieanlagen in Richtung Stadtrand ist an den Gründungsjahren gut zu verfolgen.

Die Industrie orientierte sich zunehmend an den damaligen Leitlinien des Verkehrs (Bahn und Schiff). Die Existenz von fünf Fernbahnhöfen zeigt Berlins Entwicklung zum Eisenbahnknotenpunkt. Der innerstädtische Verkehr wurde zunächst durch Pferde- bzw. Straßenbahnen, später durch die Ringbahn (ab 1871) und die Stadtbahn (ab 1882) verbessert.

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